Geschehnisse im Ortsleben von 1875 - 1910

Schon in den Jahren 1839 und 1840 waren im Kreise Schleiden die so genannten schwarzen Pocken aufgetreten. Sie forderten vorwiegend unter den Kindern viele tödliche Opfer. Zwar wurde die Schutzimpfung eingeführt, um die Kindersterblichkeit zu verhüten. Die Durchführung aber war sehr mangelhaft. Ein großer Teil der Kreisbevölkerung wurde überhaupt nicht geimpft, wozu auch die Einwohner von Sötenich gehörten.

Im Jahre 1871 trat wiederum eine heftige Pockenepidemie auf. Fuhrleute aus dem Kreise Schleiden, die Leibesgaben zu den in Frankreich stehenden Soldaten brachten, hatten diese Krankheit mitgebracht und weiter verbreitet. Immer wieder flackerte die Pockenkrankheit in den nächsten Jahren auf. Auch in Sötenich herrschten insbesondere unter der Jugend die Pocken und forderten viele Todesopfer. Sogar der Lehrer Maus wurde damals, trotz seines bekannten reichlichen Alkoholkonsums, von den Pocken nicht verschont. In einer Woche starben damals allein in Sötenich 18 Kinder an Pocken.

In der Mitte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde auf dem Wachtberg von Ortsansässigen der so genannte Zuckerstein gebrochen und durch das Lohnfuhrwerk, später durch die Eisenbahn zur Euskirchener Zuckerfabrik gebracht. Der Stein wurde damals wegen seiner chemischen Bestandteile, die bei der Herstellung von Zucker benötigt wurden, sehr begehrt. Deshalb war der Vertrieb der "Zuckersteine" lohnend. Noch bis vor Jahren waren auf dem Wachtberg Stellen sichtbar, wo der Zuckerstein, der seinerzeit manches Verdienst einbrachte, gebrochen wurde.

Im Jahre 1887 wurde in Sötenich die Kalkindustrie wieder lebendig, die auch schon in früheren Zeiten dem Ort und vielen Einwohnern gute Verdienstmöglichkeiten gegeben hatte.

Während sie bisher nur in mäßigem Umfang, oft mit jahrzehntelangen Unterbrechungen wegen der schwierigen Transportverhältnisse und mangelndem Absatz betrieben wurde, ging man jetzt dazu über, die Bodenschätze an kalkhaltigem Gestein in der Sötenicher Mulde nach modernen, industriellen Gesichtspunkten nutzbringend zu verwerten.

Bisher war Kalk nur in Einzelkalköfen von Wilhelm Preußer am Gierzenberg und von Reuter gebrannt worden. Reuters Kalkofen stand an der Kurve der Rinnerstraße, am Fuße des Bilstein. Beide Kalköfen gingen später in den Besitz der Firma Hermann Schulz über.

Um die Jahrhundertwende von 1900 – 1909, entstand auf dem Bilstein das Kalkwerk von Zillkens aus KölnEhrenfeld. Durch Stollen und Seilbahnen wurden die Kalksteine damals in den Ringofen an der Rinnerstraße befördert. Da der Absatz gut war, beschäftigte Zillkens ca. 80 Arbeiter, die zum Teil aus Sötenich, zur Mehrzahl aber aus Rinnen, Wahlen und Sistig stammten.

Im Jahre 1911 wurde dieses Werk von den Westdeutschen Kalk und Portlandzementwerken mit Sitz in Köln gekauft.

Bevor im Jahre 1880 der Beuststollen seine Pforten wegen Rohstoffmangel schließen musste, war Sötenich neben Mechernich das reichste Dorf im Kreise Schleiden. Die damals einsetzende Erwerbslosigkeit ließ unser Dorf jedoch verarmen. Viele wanderten ab, manche suchten sich Verdienstquellen in Kall auf der Bleihütte oder im Mechernicher Erzbergbau.

Als aber der Unternehmer Hermann Schulz aus Essen/Ruhr 1887 das Kalkwerk hier begründete, zog wieder Wohlstand in die Gemeinde. Zunächst legte Schulz 5 Kalköfen im Scheidt (gegenüber der Spick) an. Mittels einer Pferdebahn wurde der Kalkstein zur Kalkmühle, wo sich damals auch die Silos befanden, gefahren. Allein 7 Pferde wurden für diese Arbeiten benötigt.

Durch die guten Geschäftsverbindungen des Hermann Schulz war der Absatz so glänzend, dass im Jahre 1898 noch 5 weitere Kalköfen auf dem Gelände des ehemaligen Hüttenwerkes Mönchenrath angelegt wurden. Größere Landkäufe wurden getätigt, z. B. im Jahre 1899 der Wachtberg.

Auch die damalige Wirtschaft Klein, die seinerzeit auf dem Gelände der heutigen Bürogebäude der Sötenicher Zementwerke stand, wurde aufgekauft. Diese Wirtschaft war weithin wegen ihres guten Rufes bekannt. Monatlich trafen sich hier die Reitmeister der Schleidener Industrie (die Noblesse des Kreises Schleiden).

Im Anfang beschäftigte das Kalkwerk Schulz etwa 50 Arbeiter. Sie verdienten pro Tag 1,80 Mark, die Brenner 2 Mark. Nach und nach wuchs der Betrieb, so dass schließlich 1910 etwa 100 Arbeiter dort beschäftigt waren. Auch der Löhne stiegen damals durch den guten Absatz. Vorwiegend waren hier Sötenicher beschäftigt. Nach 1910 wurde pro Tag etwa 3,50 4,50 Mark verdient.

Der Unternehmer Hermann Schulz, der als ein gerechter, wohlwollender und zudem sozial denkender Mann galt, verstand es, auf großem Fuße zu leben. Er baute 1889 die Villa an der Straße nach Rinnen, besaß Kutschwagen mit herrlichen Pferden, eine Dienerschaft und war auch ein großer Jagdliebhaber. So hatte er zwei Förster für seinen ausgedehnten Jagdbesitz angestellt.

Infolge einer Nervenkrankheit starb er in geistiger Umnachtung im Jahre 1902 in der Heilanstalt Grafenberg bei Düsseldorf. Mitschuldig an diesem Zustand mag auch der Umstand sein, dass er dem Alkoholismus verfiel. Im Schleidener Tal besaß er ein großes Ansehen. Sogar die Eisenbahnzüge warteten auf sein Erscheinen, wenn ihnen die Mitfahrt des Herrn Schulz berichtet wurde und er nicht pünktlich zur Stelle sein konnte.

Nach seinem Tode ging es dann durch Fehlkalkulationen, schlechte Betriebsleiter sowie die Unfähigkeit seiner Erben zur Leitung des Betriebes (ein Enkel wanderte nach Argentinien aus), mit dem Kalkwerk bergab.

Im Jahre 1911 wurden die Werke des Herrn Schulz und sein ganzer Landbesitz außerordentlich billig von der Westdeutschen Kalk- und Portlandzementwerke A.G. Köln übernommen. Diese Aktiengesellschaft gehörte zum Konzern der Vereinigten Stahlwerke, dem damaligen bekannten deutschen Großkonzern.

Die Kalkwerke blühten erneut auf, bis die Kalkgewinnung 1928 durch die Zementherstellung ersetzt wurde.

Umfangreiche Untersuchungen hatten nämlich ergeben, dass der Sötenicher Kalkstein auch für die Zementherstellung geeignet war.

Am damaligen Wohlstand der Sötenicher Bevölkerung hatten die Kalkwerke einen gewissen Anteil, denn ein großer Teil der Sötenicher Einkommensteuer, der allerdings keine 50 % ausmachte, brachten die Angehörigen der Zementwerke auf.

Die Gemeinde jedoch hatte seinerzeit keine steuerlichen Vorteile von diesen Werken. Die 44.000 DM, die jährlich eigentlich der Gemeinde hätten zufließen müssen, wurden nach dem Gesetz an das Finanzamt abgeführt, in dessen Bezirk die Aktiengesellschaft ihren Sitz hatte.

Der Wachtberg wurde übrigens im Jahre 1899 für 30.000 Mark an Hermann Schulz verkauft. Das Geld sollte für den Bau eines neuen Amtshauses Verwendung finden. Die Mitglieder des Gemeinderates waren sich aber über die Platzfrage nicht einig. Einige wollten das Amtshaus nach Sötenich, wo bisher das Bürgermeisteramt seinen Sitz hatte, andere nach Sötenich-Kall.

Als es dann schließlich zur Abstimmung kam, setzten die Gemeinderatsmitglieder von Sötenich-Kall, welche im damaligen Gemeinderat die Mehrheit hatten, durch Stimmenmehrheit durch, dass das Amtshaus in Sötenich-Kall gebaut werden sollte.

So verlor die Gemeinde Sötenich dann nicht nur den Sitz des Bürgermeisteramtes, sondern auch die 30.000 Mark aus dem Erlös ihres Gemeindelandes, da mit diesem Geld das neue Amtshaus in Kall, das aber im zweiten Weltkrieg zerstört wurde, gebaut wurde.

Der Verbindungsweg nach Urft-Steinfeld war seit je her immer die steile Dorfstraße. Als aber dann im Jahre 1892 der Fuhrmann Dresen aus Sötenich hier mit seinem Holzfuhrwerk tödlich verunglückte, war das der Anlass eine neue Straße entlang der Urft, vom Geschäft TheißenLörper bis zur Spick zu bauen. Ein alter Kalkofen, der hier stand, wurde beseitigt.

Die Straße wurde damals gebaut von dem Bauunternehmer Blase aus Mechernich. Da dieser sich in den Kosten verkalkuliert hatte, geriet er in arge finanzielle Verlegenheit.

Damals wurde auf der Bleihütte in Kall silberhaltiges Blei aus Schweden verarbeitet. War nun daraus soviel Silber gewonnen, dass es sich ein Transport lohnte, brachte ein Postwagen die Silberbarren zum Bahnhof nach Kall. Postbeamte sorgten dann für eine sichere Weiterleitung des Silbers, das in kleinen Kisten verpackt war.

Als sich an einem kalten Winterabend der Postzug verspätete, stellten die Postbeamten die Silberkisten auf den Bahnsteig und gingen in die Stube eines Bahnmeisters, um sich zu wärmen. Der Unternehmer Blase benutzte diesen Augenblick, um sich einige dieser Silberkisten anzueignen. Der Diebstahl wurde zwar entdeckt, aber der Täter nicht. Blase vergrub das Silber und warf die Kisten am so genannten „Sötenicher Leichenweg“ in die Urft, wo sie dann leer aufgefunden wurden.

Einige Monate später kam die Sache jedoch heraus, als eine Tochter des Herrn Blase ihr Verlöbnis mit einem jungen Mann, der von diesem Familiengeheimnis Kenntnis hatte, löste. Der junge Mann zeigte Herrn Blase an, der damals mit Gefängnis bestraft wurde. Ein Teil des Silbers war nach Lüttich verschoben, der Rest wurde sichergestellt.

Ein weiterer und bedeutender Erwerbszweig der Sötenicher Bevölkerung starb durch die damaligen, negativen Umwelteinflüsse des Zementwerks leider völlig aus:

Bis 1928 war Sötenich als Sommerfrische sehr beliebt und seine günstige Lage war zudem geeignet, Ausgangspunkt für kleine und größere Eifelwanderungen zu sein. Der damalige Fremdenverkehr brachte viel Geld in die Gemeinde. Das damalige Urfttalhotel sowie viele Sötenicher Familien beherbergten jährlich zahlreiche Sommerfrischler.

Durch die starke Staubentwicklung, welche die Zementwerke im Gefolge hatten, verzogen sich diese Sommergäste nach und nach völlig.

Eine interessante Episode leistete sich unser damaliger Bürgermeister Reuter als in den neunziger Jahren der Erzbischof von Köln die Sötenicher Kirche, in der ständig das Allerheiligste aufbewahrt wurde, visitierte. Während die Gläubigen nun in der Kirche versammelt waren, begrüßte das Oberhaupt des Dorfes den Kirchenfürsten.

Der Erzbischof hielt ihm nach der Begrüßung das Aspergil hin, um sich zu segnen. Bürgermeister Reuter aber ergriff das Aspergil und schritt damit durch die Mitte der Kirche und teilte nach rechts und links mit dem Aspergil den Weihwassersegen aus.

Der Bürgermeister Reuter hatte gemeint, der Erzbischof hätte ihm diese bischöfliche Funktion durch Hinhalten des Aspergils, mit dem er sich segnen sollte, erteilt.